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Vorratsdatenspeicherung nach dem EuGH-Urteil

Vielerorts (etwa in der Süddeutschen Zeitung oder bei N-TV) war Ende September 2022 zu lesen und/oder zu hören, dass der EuGH mit seinem lang erwarteten Urteil (Urteil des EuGH vom 20. September 2022 in den verbundenen Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19) die Privatsphäre geschützt, Bürgerrechte gestärkt und die Vorratsdatenspeicherung verboten hat. Allerdings sind auch die ersten Kritiken schnell gekommen, denn so richtig „verboten“ ist die Vorratsdatenspeicherung auch nach der EuGH-Entscheidung nicht. Wir haben das Urteil des obersten europäischen Gerichtshofs genau unter die Lupe genommen und für Sie hier zusammengefasst und bewertet.

Der EuGH hat mit seinem Urteil vom 20. September 2022 bestätigt, dass eine allgemeine unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten dem Recht der Europäischen Union grundsätzlich widerspricht, es sei denn, diese wird durch eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit gerechtfertigt. Darüber hinaus dürfen die Mitgliedstaaten nach der Auffassung des EuGH eine gezielte Vorratsspeicherung und umgehende Sicherung solcher Daten sowie eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von IP-Adressen zum Zwecke der Bekämpfung schwerer Kriminalität vorsehen. Will der Mitgliedsstaat von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, hat der Gesetzgeber einiges zu beachten, unter anderem etwa den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit von Rechtsvorschriften sowie die Schaffung von wirksamen Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken.

Worum geht es?

Vorratsdatenspeicherung bezieht sich auf Daten, die von Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste und Betreibern der Kommunikationsnetze erhoben und gesammelt werden, damit die elektronische Kommunikation vernünftig laufen kann. Diese Daten sollen dann gespeichert und den Strafverfolgungsbehörden zum Zwecke der Kriminalitätsbekämpfung, mithin zur Vermeidung und Aufklärung von Straftaten, zur Verfügung gestellt werden. Da diese Daten ohne Verdacht einer Straftat bezogen auf alle Menschen gespeichert werden, spricht man von einer Speicherung „auf Vorrat“.

Was ist passiert?

Der Streit bezüglich der Vorratsdatenspeicherung ist nicht neu. Die Grundlage für dieses konkrete Urteil bildete die Klage der deutschen Provider SpaceNet und Telekom gegen die Regelung des Telekommunikationsgesetzes (TKG) in der Fassung von 2015, welche die Provider verpflichtet hatte, Verkehrsdaten vier (bei Standortdaten) bis zehn (bei Verbindungsdaten) Wochen auf Vorrat zu speichern und gegebenenfalls an Strafverfolgungsbehörden herauszugeben. Es ging (und geht) um Verbindungs- und Standortdaten sowie IP-Adressen: die Daten, die einen Rückschluss darüber, wer wann mit wem woraus telefoniert hat, ermöglichen.

Da diese Klage bereits in Deutschland (vom Verwaltungsgericht Köln) erfolgreich entschieden war, hatte die Bundesnetzagentur diese Regelung (mithin die Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung) „bis zur endgültigen rechtlichen Klärung“ ausgesetzt. Diese Klärung erfolgte nun mit dem Urteil des EuGH vom 20. September 2022: Das Bundesverwaltungsgericht als höchste deutsche Instanz hatte ein sogenanntes „Vorabentscheidungsersuchen“ an den Europäischen Gerichtshof gerichtet, diesen also gebeten, das europäische Recht daraufhin zu prüfen, ob die deutsche Regelung diesem widerspreche.

Der EuGH hat zunächst festgestellt, dass die nach der deutschen Regelung „auf Vorrat gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Personen – etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Personen und das soziale Umfeld, in dem sie verkehren – und insbesondere die Erstellung eines Profils dieser Personen ermöglichen“.

Was genau ist aus der Sicht des EuGH erlaubt?

Der EuGH hat ganz am Ende des Urteils nach langen Ausführungen zum Schutz der Privatsphäre ziemlich lapidar darauf hingewiesen, dass „Rechtsvorschriften […], die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen“, dem Europarecht widersprechen.

Bereits im nächsten Satz finden sich allerdings Ausnahmen aus diesem „Verbot“, die es dem „nationalen Gesetzgeber“ (also jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union) ausreichende Möglichkeiten eröffnen, doch noch viele Daten auf Vorrat speichern zu lassen und auch an die Strafverfolgungsbehörden aushändigen zu lassen.

Möglich sind demnach:

  1. Eine Verpflichtung zur allgemeinen und unterschiedslosen Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten auf Vorrat „zum Schutz der nationalen Sicherheit“, „wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht“; zwar ist diese Verpflichtung an eine wirksame Kontrolle „zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien“ durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle geknüpft und soll „auf das absolut Notwendige“ begrenzt sein, jedoch stellt sie zumindest in dieser Form keine unüberwindbare Hürde für den nationalen Gesetzgeber in Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung.
  2. Eine Verpflichtung zur „gezielten“ Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten, wenn dies „zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ notwendig sei und „auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums“ erfolgt; auch hier ist der Zeitraum einer solchen Speicherung „auf das absolut Notwendige“ zu begrenzen, jedoch verlängerbar.
  3. Eine Verpflichtung zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, wenn dies „zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ notwendig sei und sich wiedermal „für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum“ erstrecke.
  4. Eine Verpflichtung zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung „der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten“, wenn dies wiedermal „zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit“ notwendig sei.
  5. Eine Verpflichtung zur umgehenden Sicherung von Verkehrs- und Standortdaten durch Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste für einen festgelegten Zeitraum, die allerdings lediglich aufgrund „einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt“, auferlegt werden darf, wenn dies „zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit“ notwendig sei.

Wie bereits diese Liste vermuten lässt, ist der Vorratsdatenspeicherung nicht einmal ein ernstzunehmender Riegel vorgeschoben worden: Die Entscheidung des EuGH scheint primär darauf gerichtet zu sein, die nationalen Regierungen zu zwingen, vernünftige Begründungen, Schranken, Garantien, Missbrauchsschutz sowie Verhältnismäßigkeit zu liefern und gesetzlich zu verankern. Wie der deutsche Gesetzgeber dem nachkommt, bleibt abzuwarten.

Was sagt eigentlich die Praxis?

Bislang ist der Nutzen der Vorratsdatenspeicherung weder für den Schutz der nationalen Sicherheit noch für die Bekämpfung der Kriminalität nicht ausreichend untersucht. Zwar gibt es einige Untersuchungen des Bundeskriminalamtes, die die auf Vorrat gespeicherten Daten als eine sehr wichtige und absolut notwendige Quelle der Informationen bei der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden darstellen. Diese stehen allerdings in Kritik, da diese zahlreiche methodische Schwächen aufweisen und den Eindruck erwecken, nicht ergebnisoffen durchgeführt worden zu sein, denn das Bundeskriminalamt plädiert seit Jahren für eine umfassende Vorratsdatenspeicherung. Eine (271-Seiten-lange) Studie des Max-Planck-Instituts für Strafrecht hat dagegen die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherung nicht beweisen können, weder in Bezug auf den Schutz der nationalen Sicherheit noch hinsichtlich der Bekämpfung schwerer Kriminalität (weder die Aufklärung von Straftaten hängt mit der Vorratsdatenspeicherung zusammen noch lassen sich Straftaten, insb. Terroranschläge, durch die Abfrage von gespeicherten Daten vermeiden, vgl. hier).

Insofern kann der wahre Nutzen der Vorratsdatenspeicherung nicht eingeschätzt werden.

Was ist zu tun?

Im Grunde genommen hat sich die Rechtslage nach dem Urteil nicht verändert. Die Vorratsdatenspeicherung ist in Deutschland seit vielen Jahren ausgesetzt, dabei bleibt es auch bis zur nächsten Gesetzesänderung. Da der EuGH eine (auch unterschiedslose) Vorratsdatenspeicherung nicht komplett ausgeschlossen und somit den Schutz der personenbezogenen Daten europäischer Bürger nicht wirklich gestärkt hat, bleibt wenig Hoffnung, dass es in Deutschland keine Vorratsdatenspeicherung geben wird. Wie genau die Pflichten der Kommunikationsdienste ausgestattet werden und wie tief der staatliche Eingriff in die Privatsphäre sein wird, bleibt abzuwarten.

Wir bleiben dran.

Text: Olga Kunkel

Sie haben Fragen zu diesem Beitrag? Dann wenden Sie sich gern an olga.kunkel@itwirtschaft.de.

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